Iván Andrassews fernes Tagebuch
30. Dezember 2010.(1)
Ungarisches Original: 19. Dezember 2010.(2)
____________________Es sieht so aus, dass dies die letzte Sendung vor der Verabschiedung des neuen Mediendings ist; nun gut, nennen wir es jetzt – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – „Mediengesetz“. Es ist mir das letzte Mal möglich, frei und ohne Selbstdisziplin zu Ihnen zu sprechen. Demnächst werde ich mich wohl zurückhalten, weil ich der Gemeinschaft, der Redaktion und dem Medium, für das ich schreibe, spreche und redigiere, keinen Ärger bereiten möchte. Ich werde mich auch dann zurückhalten, wenn nicht nur Sie mich ermuntern, mich keine Sekunde zurückzuhalten, sondern auch meine Redakteurskollegen. Anfangs werde ich mich dafür schämen und mein Gewissen mit verschiedenen Erklärungen beruhigen: weil mir ein Gesetz im Rücken sitzt, in dem irgendwas steht, das schemenhaft formuliert ist, damit keiner weiß, was er sagen darf und was nicht. Also sage ich lieber nichts, denn selbst ein einziger Satz kann Millionen kosten. Vielleicht gerade so viel, wie Sie großzügigerweise gespendet haben, damit dieses Radio weiterarbeiten kann.Natürlich werde ich, schlauer Fuchs, all meine Sprachfertigkeiten einsetzen und durch die Blume zu Ihnen sprechen; in diesem Blumenstrauß wird zwar meine Meinung und die Wahrheit enthalten sein, diese werden Sie aber nur mit einiger Anstrengung verstehen.Man muss dann sehr aufmerksam sein, meinen Kommentar vielleicht im Internet noch einmal nachhören, damit die feinen Anspielungen verständlich werden. Praktische Erfahrung besitze ich genug, war ich ja schließlich bereits vor der Wende Journalist. Heute hilft mir die Technik, in erster Linie das Internet, von dem wir damals nicht einmal zu träumen wagten.Bleibt nur noch die Frage, ob Sie bereit sind, am Samstagnachmittag oder am Sonntagvormittag den Schneebesen beiseite zu legen, das Auto anzuhalten oder aber Ihre Arbeit im Garten oder das Putzen in der Wohnung für die paar Minuten zu unterbrechen, wenn ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitte. Es kann sein, dass Sie sagen, ich höre diesem feigen Mann nicht mehr zu, dem Mann, der immer an der Sache vorbeiredet, sondern schalte auf einen Musiksender um, z.B. aufs Petőfi-Radio. Zugegeben, dieses hat einen Chefredakteur, der Mitglied des Motorradfahrerclubs Goj Motorosok (Nicht-jüdische Motorradfahrer) ist, aber ich werde wenigstens nicht mit unverständlichen Begriffen genervt, denkt sich dann wohl der eine oder andere.Wenn Sie mir dann Briefe schreiben, erkläre ich Ihnen, dass nicht ich feige bin, nicht ich habe Angst. Ich habe nicht Angst um mich, sondern um andere. Um andere, denn ich bin tapfer, gehorche aber auch einer Moral, und jeder der tapfer und moralisch ist, denkt immer an andere.Es wird nur einige Monate dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, eine raffinierte Rhetorik anwende und nicht einmal zufällig die Wahrheit ausspreche. Die Wahrheit, von der ich denke, dass sie eine ist. Hoffentlich werden wir nie so weit kommen, dass das Klubrádió nicht mehr ein Sender der „Fakten und Meinungen“ ist. Denn aus der Nähe der Fakten werden wir von einer zentralisierten Medienmacht verbannt und von den Meinungen bleiben nur noch Anspielungen übrig. Nur Stimmen. Wörter. Sätze ohne Gewicht und Mark. Ein Walzer der Gedanken für leere Stunden.Mag sein, dass Sie mitspielen. Mag sein, dass wir die Jagd nach Hintergründigem, den Tanz der Meinungen und das leere Gelaber sogar spannend finden.Aber ich werde mich schämen. Und auch Sie werden sich schämen. Weil ich lüge und Sie meine Komplizen sind. Weil wir in einem solchen Land leben. In dem der Kampf ums Wesentliche selbst dem Tapfersten das Rückgrat bricht. Bei manchen einmal, bei anderen zweimal oder hundertmal. Wenn die neue Mediengesetzgebung trotz aller Warnungen und trotz des weltweiten Aufschreis wirklich in die Tat umgesetzt wird, dann werden wir uns, gezwungenermaßen zwar, aber dennoch einer albernen, dunklen Kraft beugen, was nicht nur ekelerregend, sondern auch traurig ist. Denn diese Kraft weiß nicht, was sie tut. Doch wir können den Menschen hinter der Kraft nicht mehr verzeihen, nur weil sie nicht wissen, was sie tun.(Studio Sieben, Klubrádió(3))übers. v. Magdalena Marsovszky
Quellen:
(1) Bevor ich beginne zu lügen, Andrassew Iván távoli naplója, 30. Dezember 2010.
(2) Mielőtt hazudozni kezdek, Andrassew Iván távoli naplója, 19. Dezember 2010.
(3) Klubrádió